Ein Blick hinter die Kulissen: Leben mit ALS und 24-Stunden-Pflege - Ein Gastbeitrag von Alex

Veröffentlicht am 15. August 2025 um 20:00

Leben mit einer schweren Erkrankung wie ALS stellt Betroffene und ihre Angehörigen vor enorme Herausforderungen – körperlich, emotional und organisatorisch. Besonders die 24-Stunden-Pflege verändert den Alltag grundlegend und bringt Themen wie Selbstbestimmung, Nähe, Grenzen und Vertrauen in den Vordergrund.

In diesem eindrucksvollen Gastbeitrag gibt Alex, selbst ALS-Betroffener, einen persönlichen Einblick in seinen Alltag: Wie funktionieren Rufsysteme im Pflegealltag? Wie entsteht Vertrauen zwischen Patient und Pflegekraft? Und wie lässt sich trotz intensiver Pflege ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben führen?

Lest weiter und bekommt einen ehrlichen, bewegenden und praxisnahen Blick hinter die Kulissen der 24-Stunden-Pflege – aus der Perspektive von jemandem, der sie jeden Tag erlebt..

An dieser Stelle, vielen Dank für Deinen Beitrag, Alex. 😊

Leben mit ALS und 24-Stunden-Pflege - Alltag, Nähe, Grenzen

Leben mit ALS und 24-Stunden-Pflege bedeutet, dass jeder Tag anders ist – und gleichzeitig strukturiert. Die Diagnose ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) bringt Stück für Stück Einschränkungen mit sich. Irgendwann wird aus Unterstützung eine Notwendigkeit: Pflege rund um die Uhr. Was das konkret im Alltag heißt, ist für Außenstehende oft schwer vorstellbar.

Ich lebe seit zwei Jahren mit ALS. Mittlerweile kann ich mich kaum noch bewegen, meine Sprache ist eingeschränkt, und ich bin auf einen Elektrorollstuhl, einen Personenlifter, eine PEG-Sonde und eine NIV-Beatmung angewiesen. Ohne mein Pflege-Team wäre ein selbstbestimmtes Leben zu Hause unmöglich. Doch Pflege ist nicht nur Hilfe – sie ist Beziehungsarbeit, Vertrauen und tägliches Aushandeln von Nähe und Grenzen.

Der Tag beginnt mit einem Geräusch

Ich habe ein Rufsystem mit Akustiksensor. Das heißt: Wenn ich wach bin, gebe ich ein Geräusch von mir – ein Summen, ein lauter Ton – und das System alarmiert die Pflegekraft. Es ist mein Weg, mich bemerkbar zu machen, wenn ich selbst nicht mehr rufen oder klingeln kann. Meist dauert es nicht lange, bis jemand bei mir im Zimmer ist. Doch auch das ist abhängig davon, wer Dienst hat, wie vertraut jemand mit dem System ist – und wie gut er oder sie hinhört.

Ich erinnere mich an Nächte, in denen ich mehrfach versucht habe, das Signal auszulösen, aber keine Reaktion kam. Das ist kein Vorwurf – es zeigt nur, wie sensibel und abhängig dieses System ist. Wenn alles funktioniert, ist es ein Stück Selbstbestimmung. Wenn nicht, fühlt man sich schnell hilflos, panisch und voller Angst – zuhause im eigenen Bett. Absurd, oder? Nicht mit ALS. Viele Pflegekräfte verstehen das nicht, der Blick über den Tellerrand rein in den Patienten ist entscheidend.

Nähe – gewollt und trotzdem zu viel

Körperliche Nähe ist in der Pflege unvermeidbar. Ich werde täglich mehrmals gehoben, gewaschen, gelagert, angezogen. Intimsphäre? Schwierig. Besonders heikel ist es, wenn neue Pflegekräfte dazukommen oder der Wechsel zu schnell geht. Es braucht Vertrauen – und das entsteht nicht über Nacht. Ich erinnere mich an eine Pflegerin, die direkt beim ersten Einsatz gefragt hat was ich gerne mache und worauf ich Wert lege während sie mich versorgte. So ein kleiner Moment – aber so wertvoll.

Ein weiterer Moment, den ich besonders fand, war als eine Pflegekraft, die schon ein Jahr bei mir gearbeitet hat, sich mit mir zwei Stunden Lieder bei Spotify angehört hat und wir uns gegenseitig bekannte Lieder vorgespielt haben. Uns trennen fast 20 Jahre. Sowas lernt man nicht in der Pflegeschule, sondern man sieht den Patienten einfach als Menschen.

Grenzen setzen – obwohl ich Hilfe brauche

Viele denken, man müsse als Pflegebedürftiger alles „dankbar annehmen“. Doch das stimmt nicht. Ich habe lernen müssen, deutlich zu sagen, was ich möchte – und was nicht. Dazu gehört auch, dass ich bestimmte Pflegekräfte nicht mehr sehen möchte, weil es einfach menschlich nicht gepasst hat. Nur weil jemand seine Arbeit macht, heißt das nicht, dass ich mich permanent unwohl fühlen muss.

Mein Wohnzimmer ist ein Arbeitsplatz

Ein ganz praktischer Aspekt: Mein Zuhause ist rund um die Uhr bewohnt – von mir und dem Pflegeteam. Der Esstisch ist oft belegt mit Dokumentation, Medikamente stehen in Sichtweite, das Beatmungsgerät bläst im Hintergrund. Privatsphäre gibt es nur, wenn man sie aktiv einfordert. Ich habe mir angewöhnt, ganz klar zu sagen: "Ich brauche jetzt 30 Minuten für mich." Das klappt nicht immer – aber immer öfter.

Leben mit ALS ist mehr als Pflege

Trotz all dieser Herausforderungen ist mein Leben nicht trostlos. Ich erlebe schöne Momente, lache viel, bekomme Unterstützung, wo ich sie brauche. Ich blogge, schreibe mein ALS-Tagebuch, bin viel draußen mit meinem Elektrorollstuhl, freue mich über gutes Essen (auch wenn es über die PEG kommt) und genieße Gespräche mit Menschen, die mich als Mensch sehen – nicht nur als Pflegefall.

Über den Autor:

Ich bin Alex, Blogger und ALS-Betroffener. Auf www.alexinspire.de dokumentiere ich in meinem persönlichen ALS-Tagebuch, wie ich meinen Alltag mit ALS und 24-Stunden-Pflege gestalte. Mein Ziel: Mut machen, aufklären und zeigen, dass auch mit schwerer Krankheit ein erfülltes Leben möglich ist – mit Offenheit, Technik, Humor und Menschlichkeit.

 

Pflege ist wichtig - und du bist es auch!