Ich darf alles fühlen – und trotzdem professionell sein > Warum echte Pflege keine Angst vor Emotionen haben darf

Veröffentlicht am 4. Juli 2025 um 20:00

Du darfst das nicht so nah an dich ranlassen.“

„Professionell bleiben!“

„Das ist halt Pflege – da darfst du nicht so weich sein.“

Solche Sätze hört man oft. Im Dienstzimmer. In Gesprächen. In sich selbst. Sie klingen vernünftig. Stark. Abgeklärt. Aber sie sind auch gefährlich. Weil sie unterschwellig sagen: Gefühl ist Schwäche. Distanz ist Stärke. Und damit stellen sie Pflege in eine Ecke, die ihr nicht gerecht wird.

Pflege ist Nähe – ob wir wollen oder nicht

Pflege ist kein Verwaltungsjob. Wir arbeiten nicht an Akten oder Objekten. Wir arbeiten mit Menschen – in ihren verletzlichsten Momenten:

👉 Wenn jemand seine Kontrolle verliert – über Körper, Emotionen, Leben.

👉 Wenn jemand Abschied nimmt – von Angehörigen oder von sich selbst.

👉 Wenn jemand etwas aushalten muss, das sich nicht „lösen“ lässt.

Diese Situationen fordern uns – und berühren uns. Wer da sagt: „Ich spüre nichts, ich bleibe professionell“, verwechselt Verdrängung mit Kompetenz.

Gefühle sind keine Gefahr – sondern Werkzeug

Wut. Mitgefühl. Hilflosigkeit. Erschöpfung. Dankbarkeit.

Pflegende erleben täglich ein ganzes Spektrum an Emotionen – oft innerhalb weniger Stunden. Das bedeutet nicht, dass wir instabil sind. Es bedeutet: Wir sind präsent. Wir spüren, was passiert – und das macht uns handlungsfähig. Ich erkenne Angst in einem Blick – und beruhige ohne Worte. Ich nehme Spannung im Raum wahr – und deeskaliere, bevor es eskaliert. Ich höre zwischen den Zeilen – weil ich nicht nur analysiere, sondern auch mitfühle.

Das ist keine Schwäche. Das ist emotionale Intelligenz – und eine der wichtigsten Fähigkeiten in der Pflege.

 

Professionell sein heißt nicht „funktionieren“ – sondern „wirken“

Oft wird Professionalität mit Abgeklärtheit verwechselt: Kühle, Distanz, Gleichgültigkeit. Aber echte Professionalität bedeutet etwas anderes:

👉 Ich fühle – und ich kann trotzdem entscheiden, handeln, begleiten.

👉 Ich gerate nicht außer Kontrolle, aber ich bin auch kein Stein.

👉 Ich bin empathisch – und ich kenne meine Grenzen.

👉 Ich bin betroffen – und ich kann trotzdem helfen.

👉 Ich bin müde – und ich kann trotzdem da sein.

Professionell sein bedeutet nicht, nichts mehr zu spüren. Sondern: trotz allem bei mir zu bleiben.

Die emotionale Unsichtbarkeit der Pflege

Gefühle in der Pflege sind real – aber selten sichtbar.

Wir verstecken sie hinter Ironie, Galgenhumor, Zigarettenpausen. Wir erzählen, was „noch gemacht werden muss“ – aber nicht, was es mit uns macht.

Warum?

Weil dafür oft kein Raum ist. Keine Zeit. Kein Schutz. Kein Verständnis. Man erwartet, dass wir funktionieren. Dass wir schnell weitergehen. Dass wir immer wieder da sind – auch nach der 4. Reanimation. Dem 3. Sturz. Der 6. Kündigung im Team.

❗Aber wir sind keine Maschinen.

❗Und Professionalität ist kein Panzer.

Gefühle brauchen Raum – sonst werden sie unsichtbar und gefährlich

Was passiert, wenn wir unsere Gefühle dauerhaft wegdrücken?

Wir stumpfen ab. Wir werden zynisch. Wir verlieren den Zugang zu uns selbst – und zu den Menschen, die wir pflegen. Wir brennen aus, weil wir zwar alles leisten – aber nichts verarbeiten.

Das ist keine Lösung. Das ist systematische Selbstaufgabe.

Was wir brauchen

👉 Gefühle, die ernst genommen werden – auch in der Übergabe, im Team, in der Supervision.

👉 Führungskräfte, die Emotionen nicht als Störung, sondern als Ressource sehen.

👉 Kolleg*innen, die sagen: „Ich hab das auch schon erlebt“ – statt: „Stell dich nicht so an.“

❗Und vor allem: Eine Haltung, die sagt: Pflege darf berühren – und Pflegende dürfen berührt werden.

Fazit:

👉 Ich darf traurig sein.

👉 Ich darf lachen, obwohl gerade jemand gestorben ist.

👉 Ich darf wütend sein, wenn mich ein System alleinlässt.

👉 Ich darf erschöpft sein – ohne mich schuldig zu fühlen.

👉 Ich darf weich sein – ohne mich zu verstecken.

Denn ich bin professionell. Nicht trotz, sondern mit Gefühl.

Pflege ist wichtig - und du bist es auch!