Pflege am Limit – Wenn Erschöpfung zum Dauerzustand wird

Veröffentlicht am 13. Juni 2025 um 20:00

In der Pflege ist Müdigkeit kein Zustand – sie ist Dauerbegleiter. Wer in der Pflege arbeitet, kennt dieses Gefühl: der Wecker klingelt, du hast das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein. Deine Beine sind schwer, dein Kopf brummt, und trotzdem stehst du auf. Nicht weil du willst – sondern weil du weißt: Die Kolleginnen sind eh schon knapp besetzt. Und die Patienten warten.

Willkommen im Alltag tausender Pflegekräfte in Deutschland.

Dauerstress als Grundrauschen – der unsichtbare Druck in der Pflege

In kaum einem anderen Berufsfeld ist die Kombination aus Tempo, Verantwortung und emotionaler Belastung so extrem wie in der Pflege. Pflegekräfte arbeiten an der Grenze des Möglichen – nicht einmalig, sondern täglich. Das Arbeitspensum ist hoch, die Zeit knapp, die Zahl der Kolleginnen und Kollegen oft zu gering. Und während der Alltag im Minutentakt durchorganisiert ist, begegnet man gleichzeitig Situationen, die emotional tief gehen: Menschen in akuter Not, Schwerstkranke, Sterbende, verzweifelte Angehörige.

Was viele nicht sehen – oder bewusst ausblenden – ist, dass es nicht die eine besonders stressige Schicht ist, die Pflegekräfte auslaugt. Es ist die ununterbrochene Anspannung, das konstante Gefühl, funktionieren zu müssen. Diese permanente Alarmbereitschaft wird irgendwann zum Hintergrundrauschen – man merkt oft gar nicht mehr, wie sehr sie einen auffrisst.

Es gibt keinen Punkt, an dem man „einfach nur Pflegekraft“ ist. Der Beruf verlangt viel mehr. Man ist gleichzeitig Koordinatorin, Ansprechpartnerin für Angehörige, Dolmetscherin, Konfliktlöserin, Sozialarbeiterin, Psychologin und oft auch Seelentröster*in. All das – während der Druck weiter steigt, weil man genau weiß: Wenn du heute ausfällst, reißt du eine Lücke ins System, die niemand füllt.

Pflege ist kein Job, den man einfach macht und dann abschaltet.

Er begleitet einen nach Hause, in Gedanken, in Emotionen, manchmal im Schlaf. Die Geschichten, die Blicke, die Überforderung – sie kleben an einem. Und dennoch kommen Pflegekräfte am nächsten Tag wieder. Nicht, weil sie müssen. Sondern weil sie wissen, dass sie gebraucht werden.

Doch das darf keine Selbstverständlichkeit sein.

Wer tagtäglich Menschen auffängt, braucht selbst ein Netz, das trägt. Strukturen, die schützen. Zeit zum Atmen, zum Verarbeiten, zum Menschsein.

Dauerstress darf nicht der Normalzustand sein.

Was wir brauchen, ist eine Kultur der Fürsorge – nicht nur für die, die gepflegt werden, sondern auch für die, die pflegen.

Schlaf – ein Luxus, den sich viele nicht leisten können

Schichtarbeit ist ein echter Schlafkiller. Besonders Nachtdienste und der ständige Wechsel zwischen Früh-, Spät- und Nachtschicht bringen den natürlichen Schlafrhythmus völlig durcheinander. Viele Pflegekräfte berichten, dass sie nach Jahren im Beruf nicht mehr richtig schlafen können – selbst an freien Tagen wacht man früh auf, ist innerlich unruhig, kann nicht abschalten.

Dabei ist Schlaf kein „Nice-to-have“. Er ist essentiell für unsere körperliche und psychische Regeneration. Ohne Schlaf nimmt die Konzentration ab, das Immunsystem leidet, die Stimmung kippt schneller. Und dennoch ist er eines der ersten Dinge, die im Pflegealltag hinten runterfallen.

Pausen? Wenn überhaupt im Dienstzimmer

Theoretisch haben wir Anspruch auf Pausen. Praktisch sehen die so aus: Ein kalter Kaffee am Dienstzimmer-Schreibtisch, schnell ein Brot im Stehen, vielleicht drei Minuten durchatmen – bis das nächste Klingelsignal kommt.

Pausen werden zu einem Akt der Rebellion. Wer sich wirklich mal hinsetzt oder den Dienstbereich verlässt, fühlt sich oft schuldig: „Was, wenn genau jetzt etwas passiert?“ Dabei wäre gerade diese Zeit so wichtig. Zum Runterkommen, für den Kreislauf, für die mentale Stärke.

Psychische Belastung: Unsichtbar, aber allgegenwärtig

Über Erschöpfung wird in der Pflege selten offen gesprochen. Wer zugibt, müde oder emotional überfordert zu sein, fürchtet, als schwach zu gelten – oder noch schlimmer: als nicht belastbar. Dabei sind wir alle irgendwann erschöpft. Und das hat nichts mit Schwäche zu tun – sondern mit einem System, das uns permanent über unsere Grenzen gehen lässt.

Viele Kolleg*innen erleben Symptome, ohne sie richtig zuzuordnen: Gereiztheit, Schlaflosigkeit, Angstzustände, das Gefühl, ständig unter Strom zu stehen. Burnout kommt nicht plötzlich – er schleicht sich langsam in unser Leben.

Pflege braucht Veränderung – und zwar dringend

Wir können nicht mehr so weitermachen. Nicht, weil wir keine Lust auf Pflege haben – sondern weil wir sie lieben, aber nicht mehr können. Die Politik diskutiert über Reformen, doch in den Stationen, Heimen und ambulanten Diensten passiert oft zu wenig. Was es wirklich braucht:

👉 Echte Personalbemessung: Nicht auf dem Papier – sondern auf dem Boden der Realität.

👉 Planbare Dienstzeiten: Verlässliche Freitage, Mitspracherecht bei Schichten.

👉 Gesundheitsschutz ernst nehmen: Zugang zu psychologischer Hilfe, Supervision, Rückenschule.

👉 Faire Bezahlung und Aufstiegschancen: Pflege ist kein Job zweiter Klasse – es ist ein Beruf mit Verantwortung.

Realistische Selbstfürsorge – nicht perfekt, aber ehrlich

Ja, wir alle haben schon diese Tipps gehört: „Mach mal mehr für dich.“ – Klingt gut, ist aber oft schwer umzusetzen. Und trotzdem: Kleine Schritte können helfen, bevor das Fass überläuft.

❗Sag nein, wenn du merkst, dass du nicht mehr kannst – auch wenn es schwerfällt.

❗Schlaf ist heilig – versuch ihn zu priorisieren, auch wenn du andere Dinge aufschiebst.

❗Such das Gespräch – mit Kolleg*innen, mit Freunden, mit der Leitung.

❗Beweg dich bewusst – Treppen, kurze Spaziergänge in der Pause, einfach mal raus aus dem Kreislauf.

❗Erkenne dich selbst an – Du leistest Großes. Jeden Tag.

Fazit: Wir sind keine Maschinen – wir sind Menschen

Pflegekräfte sind belastbar, engagiert, empathisch – aber sie sind nicht unerschöpflich. Wir sind keine Maschinen, die Tag für Tag auf Knopfdruck funktionieren. Wir sind keine Held*innen, die übermenschlich durch jede Schicht schweben. Wir sind Menschen. Menschen mit Herz, mit Verantwortung, mit Fürsorge – aber auch mit Bedürfnissen, mit Grenzen, mit Erschöpfung.

Wir spüren, wenn der Körper nicht mehr kann. Wenn der Schlaf zu kurz kommt, die Gedanken kreisen, das Herz schwer wird. Und trotzdem gehen wir weiter. Zu oft. Zu lange. Aus Pflichtgefühl, aus Kollegialität, aus Liebe zum Beruf. Aber genau das ist das Problem: Ein System, das sich auf die Selbstaufopferung der Pflegekräfte verlässt, ist krank. Es funktioniert nur, solange wir uns selbst vergessen.

Doch wer dauerhaft über seine eigenen Grenzen geht, verliert irgendwann das, was Pflege eigentlich ausmacht: Mitgefühl, Geduld, Aufmerksamkeit. Denn auch Empathie braucht Energie. Auch Fürsorge braucht Pausen. Auch Professionalität braucht Erholung.

Pflege darf keine Einbahnstraße sein. Wer dauerhaft gibt, muss auch etwas zurückbekommen. Anerkennung, Respekt, Entlastung, Raum zum Durchatmen.

Die Pflege kann nur stark sein, wenn auch die Menschen in ihr stark bleiben dürfen.

Nicht durch Heldentum – sondern durch Unterstützung. Nicht durch Selbstaufgabe – sondern durch ein System, das endlich versteht: Pflege ist menschlich. Und Menschlichkeit braucht Schutz.

Pflege ist wichtig - und du bist es auch!